Dienstag, 11. Januar 2011

Die Frau

Michael Neid

Die Tür des Cafés öffnet sich. Ein Hauch warme Frühlingsluft schwingt mit herein. Sie geht ruhig und aufrecht zu einem freien Tisch neben der Tür, ihre Absätze sind trotz der lauten Musik zu hören. Die Handtasche platziert sie auf einem Stuhl, ihren leichten Mantel legt sie über einen anderen, auf den dritten setzt sie sich. Sie schlägt die Beine graziös übereinander und nimmt mit zierlichen Fingern eine Getränkekarte.
Ich wende mich bemüht meiner Zeitung zu, jedoch nur kurz, denn ihr Anblick zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das Sonnenlicht spiegelt sich in ihrem Gesicht und ein warmer Wind spielt mit ihrem Haar. Sie ist jung und alles an ihr sehr schön.

Ein Kellner eilt heran. Er wartet geduldig und nimmt ausgesprochen freundlich ihre Bestellung entgegen. Auch andere Gäste sind von ihr berührt, einige rutschen sogar unruhig hin und her. Als der Kellner serviert, bedankt sie sich mit einem bezaubernden Lächeln. Er errötet, zieht sich ungeschickt zurück und wendet sich verwirrt einem anderen Tisch zu. Sie blickt sich um. Auch mich streift ihr Blick, doch er geht durch mich hindurch, als suche sie etwas viel weiter hinter mir. Für lange Sekunden blickt sie auf ihre Armbanduhr. Offensichtlich erwartet sie jemanden, denn sie schaut durchs Fenster.
Michael Neid

Ich falte meine Zeitung neu auf und sehe hinein. Meine Gedanken kreisen noch kurz um sie und um den Mann, mit dem sie wohl verabredet ist.

Geraume Zeit später lege ich das Blatt zur Seite. Mein Kaffee ist kalt, ich rühre trotzdem um und nippe, als sei er noch heiß. Sie sitzt immer noch allein. Der Sonnenschimmer ist schon von ihr gewichen. Den Blick hat sie der Straße zugewandt, nur gelegentlich sieht sie auf ihre Uhr.
Ein Gast fragt ohne große Höflichkeit, ob noch ein Stuhl frei sei. Sie schreckt auf. Für einen Moment legt sich warmer Glanz auf ihr Gesicht, und sie nickt. Der Mann stellt ihre Tasche auf den Boden und entfernt sich samt Stuhl zu einem anderen vollbesetzten Tisch. Sie wendet sich wieder der Straße zu. Nach wie vor ist sie schön. Ich frage mich, wer sie solange warten läßt.

Viel später falte ich die Zeitung zu und leere die Tasse. Die Frau sitzt im Halbdunkel neben der Tür, still und kaum wahrnehmbar. Eilig nähert sich der Kellner, nimmt ihren Mantel und gibt ihn ihr achtlos, um den letzten freien Stuhl zu einem anderen Tisch zu tragen. Die Frau klammert sich an das Kleidungsstück und starrt vor sich. Mit Bedacht öffnet sie ihr Portemonnaie und holt Münzen hervor, die sie zaghaft auf den Tisch legt. Sie steht langsam auf und zieht sich umständlich den Mantel über. Dann klemmt sie ihre Tasche unter den Arm und hebt ein letztes Mal schwach ihren Kopf. Ihr Blick ist trüb und wie gebrochen.

Unbemerkt verlässt sie das Lokal, die Musik ist verstummt und als sie die Tür öffnet, zieht ein scharfer Wind herein. Durchs Fenster sehe ich sie davongehen. Ihre Gestalt ist gebückt unter einem großen schweren Mantel und ihr langes graues Haar flattert wirr in dem kalten Herbststurm.

Ein Kellner säubert schon ihren Platz.          

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