Donnerstag, 26. Juli 2012

Kurorchester


Gertrud Pintz-Böhler

„Damenwahl.“ Welche Dame hört’s nicht gern? Der Leiter des Kurorchesters sagt’s, charmant wie immer. Da, wo er es sagt, gibt’s kaum eine Tanzfläche – aber trotzdem: Es klingt so schön. Und das ist nicht das Einzige, was so schön klingt. Die Herren des Kurorchesters lassen sich was einfallen! Operette, Folklore, Ouvertüren, Jazz und Schlager und immer wieder etwas Einstudiertes, dass das Stammpublikum nur so staunt. Bei Sonne, bei trübem Wetter. Pärchen und Einzelgenießer, Grauhaarige und Jüngere, kommen fast jeden Nachmittag um halb vier zum Kurkonzert, vielmehr zu ihren Freunden oder wie zur eigenen Familie. Herzliches Begrüßen der Gäste untereinander und besonders der Musiker.  
Gertrud Pintz-Böhler
Während des ersten Musikstücks verhaltenes Lauschen, und einige versuchen zu erraten, was es ist, denn das erste Stück wird erst später angesagt – aber schon bald ist das Ende der Passivität angesagt. Die Zuhörer beginnen mitzumachen, sie schnalzen, klatschen und summen mit, manche scheinen fast auf ihren Plätzen zu tanzen! Wenn es einen Csárdás gibt, ist keiner mehr zu halten. Angeblich soll sich bei den Puszta-Klängen zeigen, wer ungarisches Blut hat. Betroffene sollen außerstande sein, ruhig zu bleiben. Wenn die Theorie stimmt, gibt es in der Zuschauermenge echte Magyaren. Wer hätte das gedacht? Allerdings fährt bei „When the saints go marching in“ auch ein Feuersturm durch die Menge.
Inzwischen finden sich neue Interessenten ein. Kinder, sehr kleine sogar, stehen da und starren auf die temperamentvollen Leute und können nicht glauben, wozu die Großen fähig sind. Sogar ein Dackel und ein Teichentenpärchen haben sich heute eingefunden und können nicht mehr gehen.

Eineinhalb Stunden Untertauchen in eine alltagsfremde Welt! Die Zuschauer beginnen zu träumen und sich zu erinnern: „Die Csárdás-Fürstin“ haben wir doch in den 50er Jahren abends in der Küche gehört, noch aus dem Volksempfänger! „Musik vor dem Schlafengehen.“ Alleinstehende Frauen jeglichen Alters träumen von Partnern, die sie begleiten und die sich in Zigeuner oder Walzerkönige verwandeln. Viele Spätkommende bewegen sich unbewusst im Takt auf ihrer Suche nach einem geeigneten Platz, und die Kellnerin wirft, selbst beim Servieren, zu den Cancan-Klängen die Beine in die Luft. Jeder versteht das. Wie überhaupt nach und nach jeder jeden versteht. Möge es noch viele Jahre so weitergehen!        


Montag, 23. Juli 2012

Hurdy Gurdy

Ursula M. Dickinson befasst sich seit Mitte der achtziger Jahre mit den Hurdy-Gurdy-Girls. Ihr Wissen hielt die Bad Nauheimer Autorin fest: In einem 400 Seiten starken Roman. Wir haben uns darüber unterhalten.


Petra Ihm-Fahle: Die Hurdy-Gurdy-Girls waren Tanzmädchen in den USA des 19. Jahrhunderts. Sie wurden unter falschen Versprechungen verkauft, da ihre Familien bettelarm waren. Wann und auf welche Weise hörtest Du erstmals vom Schicksal der Hurdy-Gurdy-Girls?
Ursula M. Dickinson:  Diese Mädchen stammten aus der Wetterau: Aus Espa, Weiperfelden, Butzbach, bis hinein in die Taunusgemeinde Wehrheim. Es gibt Historiker, die behaupten, sie wären auch aus der Vogelsberg-Gegend gekommen. Sie irren, denn den Menschen im Vogelsberg ging es relativ gut. Sie sahen keine Veranlassung, ihre Kinder zu verkaufen. Ich wohnte 20 Jahre in Espa und hörte dort von Nachkommen der Hurdy-Gurdy-Girls über deren traurige Geschichte. So kam ich auf die Idee, nachzuforschen, um darüber ein Buch zu schreiben. Eine authentische Geschichte, mit 400 Seiten.


Petra Ihm-Fahle: Was berührte Dich besonders an dieser Sache?


Ursula M. Dickinson:  Die Einzelheiten und das Leben der Girls, weil ich dort - in Espa - gut lebte und mir die Umstände, die zum Verkauf führten, sehr ans Herz gingen. Mir taten auch die Mütter Leid, die gegen ihren Willen zu diesem Handeln gedrängt wurden. Wie in vielen Fällen waren die Ehemänner alkoholkrank und brauchten das Geld für ihre Sucht.


Petra Ihm-Fahle: Wann entschlossest Du Dich, ihre Geschichte zu erforschen und darüber zu schreiben?
Ursula M. Dickinson:  1985/1986 las ich davon in der Zeitung. Zudem wurde in der Gastwirtschaft des Dorfs darüber gesprochen, da, wo ich auch Frauen kennen lernte, deren Mütter oder Großmütter in San Francisco als Tanzmädchen gearbeitet hatten. Mein Interesse war geweckt.


Petra Ihm-Fahle: Wie gingst Du vor?


Ursula M. Dickinson: Seinerzeit konnte man noch nicht im Internet recherchieren. In der Stadtbücherei Butzbach lieh ich mir Literatur zu diesem Thema. Ich stieß auf das Buch eines Pfarrers, der die Geschichte einer Josefa zu Papier gebracht hatte. Eine traurige Geschichte, die authentisch ist.


Petra Ihm-Fahle: ...und Dich nicht mehr losließ?   


Ursula M. Dickinson: Josefas Schicksal war die Grundlage meiner Story. Ich habe die Geschichte weiter gesponnen, wie sie durchaus hätte möglich sein können. Ich berichtete von der Überfahrt, über die Ankunft in New York und die mühsame, gefährliche Weiterreise über das Cap Hoorn bis nach San Francisco. Ich übernahm die Original-Briefe einiger Mädchen und beschrieb die Saloons der Goldgräber.
Petra Ihm-Fahle: Wie heißt Dein Roman?


Ursula M. Dickinson: Ganz einfach "Hurdy Gurdy".


Petra Ihm-Fahle: Wie lange arbeitetest Du daran?


Ursula M. Dickinson:  Man wird nie fertig mit einem Roman. Immer wieder gibt es etwas zu verändern, zu verbessern oder einfach zu streichen. Fertig in dem Sinne ist er nie geworden. Manchmal arbeite ich immer noch daran, obwohl ich jetzt zufriedener bin als anfangs.


Petra Ihm-Fahle: Hast Du ihn veröffentlicht?


Ursula M. Dickinson: Nein. Aber es gibt einen Verlag, der Interesse zeigt und ihn veröffentlichen will. Natürlich gab es viele Druckkostenzuschuss-Verlage, die für viel Geld den Roman veröffentlichen wollten, aber das möchte ich nicht. Es soll ein „ordentlicher“ Verlag sein, der mich nicht über den Tisch ziehen will.


Petra Ihm-Fahle: Was bedeutet Dir dieser Roman?
Ursula M. Dickinson: Die Geschichte der Hurdy-Gurdys bedeutet mir sehr viel. Gerade, nachdem ich herausgefunden haben, welche Qualen die Mädchen durchlebten mussten, um zu überleben, wenn überhaupt. Sie zeigt mir, wie gut es unsere heutigen Mädchen haben, die mit Laptops, eigenen Autos und so weiter ausgestattet werden - oder belohnt, sogar wenn sie Einser oder Zweier in der Schule schreiben.


Petra Ihm-Fahle: Für Historiker dürfte Deine Arbeit besonders interessant sein. Wo können sie weitere Infos erhalten?  


Ursula M. Dickinson: Geschichtsinteressierte können mich jederzeit kontaktieren, um exakte Informationen einzuholen. Mein Manuskript liegt momentan bei vorerwähntem Verlag. Bald kann man die ganze Geschichte lesen.


Samstag, 21. Juli 2012

Unsere erste Lesung

Lange her, im Jahr 2000. Kurz, nachdem unser Buch erschienen war. Schauplatz war Stumpertenrod im Vogelsberg, beim Mühlenfest. Das Gute an diesem Ort: Es war in einer Scheune, man konnte auf Strohballen sitzen. Schummeriges Licht, bei dem der Schweiß im Gesicht nicht so glänzt. Weicher Untergrund, falls man in Ohnmacht fällt - genau das Richtige. Besonders viel Publikum war nicht da, während wir unsere Kurzgeschichten vortrugen, aber einige Zuhörer waren es schon. Vor allem wir. Zu Beginn erzählten wir jeweils, wieso wir schrieben und wie wir dazu gekommen waren, wie wir auf die Idee zu der Geschichte gekommen waren und so weiter. 
Kurz und gut, eine gelungene Veranstaltung, über die natürlich die Wetterauer Zeitung berichtete. Wir hatten eine Journalistin mitgebracht, eine ältere Dame, die viel Kulturbühne schrieb. Ihr erster Artikel über uns lautete: "Wenn die Mimi ihren Krimi selber schreibt". Wir hatten sie gefragt, ob sie bei uns mitschreiben will. Das wollte sie nicht, aber sie war öfter dabei und begleitete uns. Sie lebt nicht mehr. Vom früheren Stamm sind nur noch vier Mitglieder dabei. Die anderen kamen nach und nach dazu. 
Damals war es einfach, Mitglieder zu bekommen. Das ist heute nicht mehr so leicht. Dabei sind wir viel umgänglicher geworden, nehmen Neue mit Handkuss auf. Damals waren wir schon ein bisschen arrogant. Wir waren Stars, nicht wahr?     

Kuschelig.
Liane und Ursula.
Bitte lächeln.



Kunstgewerbe.

Ursula, Sabine und Familie.

Unsere Bosse.


Mit der Journalistin Barbara.
Sabine, Michael, Anne und Petra.
Unser Macher Dieter.

Sabine.
Anne.

Unser Paradiesvogel.

Liane liest.

Waltraud.

Petra.

Michael.


Montag, 2. Juli 2012

Schwarz 2

Michael Neid

Durch den Dunst, der wohl wirklich mehr in meinem Kopf wabert, denn kaum jemand raucht hier, suche ich mir einen neuen Platz. In einer Ecke, abseits von all diesen lärmenden Menschen mit ihrem Drang nach Bestätigung und Belustigung, finde ich ihn. Ein leeres Sofa. Gemütlich und einladend auf den ersten Blick. Sogar weit genug entfernt von den Tapetenmustern. Vielleicht ist es voller Maden und Würmer und deshalb noch unbesetzt. Tatsächlich sehe ich welche, doch irgendetwas sagt mir, dass dies eigentlich nicht sein kann, also setze ich mich und versuche, etwas von einer inneren Ruhe zu finden. Nur mein Glas fehlt mir. Die Theke, wo es den Nachschub gibt, ist gerade unermesslich weit weg. So weit, dass ich mich schon als staubtrockene Mumie auf einem wurmzerfressenen Sofa sehe, zurückgelassen in den weiten Hallen königlicher Feste. Aber es ist mir unmöglich, meine sitzende Haltung zu verlassen. Alternativ käme nur eine liegende in Frage, aber soweit mag ich mich dann doch nicht demütigen. Aufstehen hieße, sich in schwindelerregende Höhen zu begeben und dies unter Bedingungen, in denen das Gleichgewicht arg leidet.

Noch mit diesen sinnlosen Gedanken beschäftigt sehe ich, dass der Nachschub rollt. Und zwar in Form einer gutaussehenden Dunkelhaarigen, welche sich mir mit zwei Bieren nähert. Ich habe mich immer gefragt, warum sich weibliche Götter dazu herablassen, mit angetrunkenen und vollgekifften Idioten zu verkehren. Diesmal bin ich einer dieser auserwählten Idioten. Gut so. Sehr gut. Sie hält weiter Kurs auf mich. Und sie lächelt, es gibt keinen Zweifel, dass sie mich meint. Vielleicht ist es Mitleid? In einem Sekundenblitz tut sich eine ganze Gedankenwelt wie ein fernes Gebirge im Nebel vor mir auf: Frauen, die nur aus Mitleid mit Männern schlafen. Oder aus Berechnung? Männer, die glauben, sie hätten alle Fäden in der Hand und dabei gar nicht merken, dass sie es sind, die wie Marionetten auf einer Kinderbühne unter den Händen ihrer Besitzerin zappeln. Sich blind in Kriege, Hochzeiten oder sonstigen Unsinn stürzen, weil die Besitzerinnen es wollen. Ist es zu billig, es auf eine reine Geschlechterfrage zu reduzieren?     
                                                                                                  Fortsetzung folgt


Copyright Michael Neid