Mittwoch, 12. Oktober 2011

Engel, die vom Himmel fallen

Gertrud Pintz-Böhler
 

Eine grüne Wiese, bei Bruck an der Leitha, Jungen und Mädchen, mehr Jungen als Mädchen, Spielgefährten jener Tage. Einmal da in Bruck, mehr als ein Jahr später im Flüchtlingslager, Auhof, auf einem abgeschossenen Flugzeug.

Aber was wir in Bruck spielten, kommt mir nicht mehr in den Sinn. Es war kein sonniger, doch ein halbwegs warmer Tag.

Die Erwachsenen hockten zusammen, wo wir geschlafen hatten, zusammen mit Landsleuten, die sich hier zur Besprechung der Lage eingefunden hatten. Was wird geschehen? Der Krieg schien zu Ende zu gehen. Aber in Hinterbrühl bleiben, so nah bei Wien, schien nicht ratsam.

Hier war man auf dem Land, mit einigen Landsleuten zusammen, die mussten ja auch überleben. Irgendwie ging's weiter.

Gerade hatten wir das gemeinsame Frühstück eingenommen. Es gab noch Brot, eine Art Vier-Frucht-Marmelade und Gerstenkaffee, den bekannten Muckefuck. Erst nach dem Krieg lernte ich das Kapitel "Hunger" kennen, als der umstrittene Muckefuck mit Zucker die einzige Nahrung war.

Ich erinnere mich an diese Muckefuck-Runde in Bruck an der Leitha, denn sie endete ungemütlich.
Da war Barth Jaksch. Ein Mann, der von sich sagte, er käme überall gut durch, denn "Glick muss 'mer hen, und Barth Jaksch muss mer haße", seine Devise. Als nahezu einziger Mann war er umringt von schutzsuchenden Witwen, was er sichtlich genoss.

Es hatte harmonisch begonnen, dieses Frühstück, eines der letzten vor dem Ausbruch des Friedens. Satt saß man noch, unter deutschen Flaggen, nicht allzu nervös, das Landleben, die grünen Wiesen, bis ein Vorfall die Ruhe störte. Schuld daran war ich.

Ich fand eine Fliege im Kaffee, zappelnd und in ihren letzten Zügen. Ohnehin nicht begeistert von der süßen, braunen Brühe, stieß ich das Kaffeehäferl von mir. Barth Jaksch stutzte: "Was is' los?" - "Eine tote Fliege in meinem Kaffee!"

Heftig ließ er seine vom Krieg noch nicht ruinierte Männerhand auf die Tischplatte fallen, laut drohend: "Es kommen ganz andere Zeiten, und du werscht noch froh sein, wenn du Toti-Mensche-Paprikas zu esse kriegst."

Der Aufschrei sollte mich schockieren, regte aber nur meine Lachmuskeln an. Das wollte Barth Jaksch jetzt nicht sehen, und ich versuchte, mein lachendes Gesicht zu verstecken. Trotz all der folgenden Not ist diese seine Prophezeiung nicht in Erfüllung gegangen.

Nach dem Frühstück auf die verlockende Wiese am Waldrand, wo man Erde roch und trotz zeitweiligen Flugzeuggebrumms für Minuten frühlingsmäßig glücklich wurde.

Plötzlich tauchte links von uns am Horizont ein englisches Flugzeug auf. Noch ehe wir uns auf die Erde werfen konnten, war es schon weitergeflogen, in östliche Richtung. Wenige Minuten später schien es in einem Gebüsch, so einige Schritte vor uns, lebendig zu werden. Ein Tier?

Dafür war es zu laut und die Bewegung zu stark. Fetzen aus weißem Tuch lagen neben dem Gebüsch. Eine Gestalt erhob sich. Eine Gestalt in Uniform, einer fremden Uniform. Der Mann erhob sich, warf die Uniformjacke neben sich und stand nun da im weißen Hemd.

Sein Gesicht war auch weiß. Waren alle Engländer so hell oder ist etwas von der Farbe des Fallschirms abgefärbt? Außerordentlich bleich war dieses Gesicht, das wir im Profil beobachten konnten. Ein sehr langes schlankes Gesicht mit einer spitzen Nase und nach innen gerichteter Oberlippe.

Ich zeichnete am liebsten menschliche Gesichter im Profil. Aber so ein Profil war mir bisher nicht aufgefallen. Später in England sah ich es häufig und verband es stets in Gedanken mit meinem ersten Engländer.

Weiße Seidenfetzen, mit denen der Mann zu kämpfen hatte, fielen auf den Waldboden. Der "Engel" brauchte seine Flügel nicht länger. Er lief in unsere Richtung. Als er uns Kinder wahrgenommen hatte, schien er zu überlegen und sekundenlang stehen zu bleiben.

Er blickte uns in die Gesichter, legte dann den Zeigefinger auf die Lippen. Wir standen da, sprach- und fassungslos. Als wir nichts sagten, vielleicht nickten, aber ruhig stehen blieben, wandte er sich ab von uns und war im Nu verschwunden: eine Himmelserscheinung.

Wir schwiegen weiterhin, für den Rest des Tages und die ganze übrige Zeit. Langsam kehrten wir in unsere Notquartiere zurück.

Jahrzehnte später erfuhr ich von meiner Mutter, mit der ich vorher nie darüber gesprochen hatte, dass in Bruck ein junger Engländer mit dem Fallschirm abgesprungen war und bei einer Kriegerwitwe in deren Häuschen am Waldrand Unterschlupf gefunden haben soll. Vermutlich ist es diesen beiden Menschen nicht allzu schlecht miteinander ergangen.


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