Sonntag, 11. Dezember 2011

Die Suppenschüssel

Petra Ihm-Fahle

Simone sitzt im Odenwaldhaus. Das Zimmer ist matt beleuchtet, die Gardinen sind zu. In der Ecke die Einbaudusche, gegenüber ein Schrank mit Glastüren. Darin Porzellan. Niemand holt es jemals heraus. Im Innern riecht es muffig. Simone schaut vor sich hin, während sie über den Schrank nachgrübelt.

Hinter ihr steht ein Regal. Bücher, geordnet nach Größe. Ein Freund sagte einmal: Betrete ich eine Buchhandlung, in der die Bücher nach Größe oder Farbe geordnet sind, gehe ich sofort wieder raus. Frank gehört zu den Menschen, die sich für Simones Geschmack zu intellektuell geben. Ein Gespräch mit ihm wirkt einschüchternd. Gleichwohl ist es angenehmer, als mit den Kleinstadtnachbarn über das Wetter zu reden.

Szenenwechsel. In Wahrheit sitzt Simone am Schreibtisch in ihrer Wohnung, die in der Kleinstadt B. liegt und ist nicht im Odenwald. Kann sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, schweifen die Gedanken ab. Wie eben ins Odenwaldhaus.

Es ist erster Dezember. Der Adventskalender für ihre Tochter war kein Erfolg. Derselbe wie im Vorjahr: Aus Holz, mit Weihnachtsmann vorne drauf. In den Fächern handgemachte Schokolade, die dem Kind nicht schmeckt. Sie wird gleich zum Supermarkt gehen und einen anderen Kalender kaufen, mit Comicbildern und Industrieschokolade.

In Gedanken wieder ins Odenwaldhaus. Vor den Fenstern auf der Straße liegt Schnee. Simone trägt einen lila Poncho, es ist hier oft kalt. Ihr Blick geht zum Schrank. Jetzt in den Schrank schauen? Jetzt hineinschauen. Die Tür öffnen und die Suppenschüsseln sehen. In die Suppenschüssel klettern. 

Die Schüssel ist ein Haus, darin wohnen der Fischer und seine Frau. Ich will in einem Haus wohnen, sagt die Frau. Der Fischer geht zum Butt in der See und bittet um ein Haus. Ich will in einem Schloss wohnen, sagt die Frau. Der Fischer geht zum Butt und bittet um ein Schloss. Ich will Papst sein, sagt die Frau. Schwups, zurück in die Suppenschüssel. Vor mehreren Jahren erzählte eine Märchentante in der Bücherei vom Fischer und seiner Frau. Das Fernsehen war da und nahm die Erzählerin auf. Kinder saßen als Statisten dabei, auch Simones Tochter. Sie machte ihre Sache gut, obwohl sie erst zwei war. Hinterher übergab sie sich auf den Teppich.

Im Odenwaldhaus wohnt Simone mit ihrem Mann, aber nur manchmal. Es ist ein Wochenendhaus. Früher waren sie öfter hier. Der Mann wird immer reservierter, irgendwann ist er vielleicht weg. Simone hat Angst davor, schon länger denkt sie darüber nach.

Das ist eine ähnliche Geschichte. 

Zurück in die Wirklichkeit, an den Schreibtisch in der Wohnung. Weiterhin Watte im Kopf. Neben Simone liegt eine Lichterkette, in einer Schachtel mit Sternen. Schon seit letztem Jahr am selben Fleck, niemals benutzt. Simone ist unordentlich. Sie hat sie im Supermarkt gekauft, auf dem Schnäppchentisch. Lichterketten sind nicht ungefährlich. Einmal bekam sie erzählt, ein Kind habe bei Freunden übernachtet, kurz nach Heiligabend. Nachts brannte es, wegen einer Lichterkette. Das Kind kam um. Die Lichterkette bleibt in der Schachtel. Egal, ob Weihnachten naht. Gans wird Simone auch nicht machen, es ist zu viel Arbeit. 
Sie versucht, sich wieder ins Odenwaldhaus zu denken und den Schrank zu öffnen. Er bleibt  zu, obwohl die Tür aufgeht. Simone ist froh. Simone geht zum Supermarkt.


Text und Bilder: Copyright by Petra Ihm-Fahle

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