Samstag, 4. Februar 2012

Das Fremde vor der Tür

Sabine Mück

Seit Stunden tobte schon der Sturm und ließ sie immer wieder aus ihrem unruhigen Sofaschlaf aufschrecken. Die Regentonne im Garten war längst übergelaufen und nun sickerte das Wasser in die Terrassenplatten und sie machte sich Gedanken, ob Sand und Kies aufgefüllt werden müssten, damit die Gartenstühle nicht schräg stehen würden im Sommer, wenn das Haus überfüllt war mit Familie und Freunden, mit Nachbarn und Gästen, die immer kurzfristig und unangemeldet einfielen und manchmal Stunden, häufig auch Tage blieben.

Ihre Mutter würde die Augen verdrehen und dann schweigend ein Gedeck mehr auflegen, das Gästezimmer herrichten und abends selbstgemachten Holunderwein einschenken, während die Kinder in ihren Betten lagen und das Lachen der Erwachsenen hörten, ihren Geschichten lauschten und darauf hofften, im nächsten Sommer länger aufbleiben zu dürfen.
Heute war kein warmer Sommertag. es war stürmisch, dunkel, der Vater hatte den Kamin nicht angemacht und langsam kroch die Kälte auf das Sofa und unter die Decke, unter das Nachthemd. Vielleicht hatte die Mutter einen Kakao zubereitet, der dampfend in der Küche auf sie wartete?

Sie stand auf, wickelte die Decke um sich und schlich barfuß durch die Wohnung. Unheimliche Schatten malten Drachen an die Wände, ließen sie hastig weggucken und schneller gehen. Die Haustür war verschlossen, daneben die Garderobe, an der nur ihre helle Jacke hing, ganz einsam und vorwurfsvoll.  Hatte sie verschlafen? Wo waren denn alle? War heute Sonntag und die Familie war zum Besuch der Kirche aufgebrochen, hatte sie vergessen? Aber das erschien ihr unwahrscheinlich, der Vater legte großen Wert auf vollzähliges Erscheinen der Familiwe, ausnahmslos.Er hätte sie wachgerüttelt, ihr schweigend das Gesangbuch gereicht und so unmissverständlich zu erkennen gegeben, was er von Langschläfern und Tagträumern hielt.
Und wenn sich ihre Augen dann mit Tränen der Beschämung füllten, hätte er ihr kurz über das Haar gestrichen, ganz kurz nur, als würde er befürchten, die anderen könnten diesen Moment der väterlichen Schwäche sehen. Sie seufzte in Gedanken an ihre Eltern und schloss die Augen. Bitte bitte bitte... Kommt... Lasst micht alleine hier... habt mich bitte nicht vergessen... bitte.

Ein lautes Geräusch an der Haustür ließ sie zusammenzucken. Ein Schlag gegen das Holz, noch einer... Stimmen, unbekannte Stimmen. Worte, zusammenhanglos, nicht für sie bestimmt. Sie fröstelte vor Angst und Unbehagen. Es mussten Einbrecher sein, die annahmen, das Haus wäre verlassen und sie hätten ungestörten Zugang. Dabei gab es hier nichts zu holen, außer vielleicht ein bisschen Silberbesteck, welches ungeputzt und unbeachtet seit Jahren in der hintersten Ecke des Wohnzimmerschranks lag, verpackt in ein blaues samtiges Tuch, in Erwartung einer zufälligen Wiederentdeckung, Wiederbelebung...

Die Klinke wurde runtergedrückt und sofort öffnete sich die Haustür. Eine Gestalt, gleißend hell, schob sich durch den Spalt in den Flur. "Frau Berger?" Eine weibliche, junge Stimme... unbekannt. Die Worte wurden wiederholt, fremd... fremd wer ist Frau Berger? Das Deckenlicht flammt auf. Die Person zu der Stimme zuckt zusammen und bleibt erschrocken stehen. "Da sind Sie ja... wir haben doch heute gemeinsames Singen, das haben Sie wohl vergessen? Die anderen warten schon im Gemeinschaftsraum..."    

Copyright 2012 by Sabine Mück und Stories in Aspik

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